Sonntag, 29. November 2009
„Toleranz steht auf dem Paravent, hinter dem sich Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit verstecken. Toleranz ist die preiswerte Alternative zum aufrechten Gang, der zwar gepredigt, aber nicht praktiziert wird. Wer heute die Werte der Aufklärung verteidigen will, der muss intolerant sein, der muss Grenzen ziehen und darauf bestehen, dass sie nicht überschritten werden.“ Henryk M. Broder, „Toleranz hilft nur den Rücksichtslosen“, in: Spiegel online, 25. Juni 2007 (URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,490497,00.html)
„Toleranz, auch Duldsamkeit, ist allgemein ein Gelten lassen und Gewährenlassen fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Gemeint ist damit heute häufig auch die Anerkennung einer Gleichberechtigung unterschiedlicher Individuen“
(www.wikipedia.de/Toleranz)

Warum ist Toleranz eigentlich als edle und erstrebenswerte Tugend bekannt?

Ein Mensch, der sich seinen Mitmenschen gegenüber tolerant zeigt und verhält, fällt in der Gesellschaft generell positiv auf. Schon Politiker benutzen in ihren Reden das Wort Toleranz genau so oft, wie patriotische Ausrufe („...Wir als Deutsche…“), um die Zuhörer positiv zu stimmen. Aber warum hat die Toleranz in der Gesellschaft einen so hohen Stellenwert?

Echte Toleranz ist die Erkenntnis, dass ein Mensch, der andere Ansichten vertritt als man selbst, daraus keinen Nachteil ziehen darf. Was passiert aber mit den Menschen, die von Dingen überzeugt sind, die das Gesetz verletzen? Was ist mit Menschen, die von Dingen überzeugt sind, die der persönlichen Moralvorstellung in keiner Weise entsprechen, die man selbst als vollkommen unmoralisch empfindet? Ist es an dieser Stelle überhaupt noch richtig, tolerant zu sein?

Meiner Meinung muss Toleranz an einem bestimmten Punkt dem weichen, was man allgemein mit Prinzipien und Werten definiert. Als Prinzip wird umgangssprachlich ein fester Grundsatz oder eine Regel genannt, an die man sich hält, bei der man sich, wenn man diese Regel außer Acht lassen oder auf den Wunsch der Allgemeinheit diese nicht befolgen, seinen eigenen Vorstellungen untreu werden würde. Meiner Meinung nach ist die Tolerierung von Handlungen oder Denkweisen, die gegen die eigenen Prinzipien und Werte verstoßen ebenso opportunistisch, wie die eigene Ausführung dieser Handlungen und Denkweisen. Sie ist deshalb ein Produkt niederer Beweggründe (wie Opportunismus, Faulheit, Feigheit etc.), weil sie die eigene Überzeugung in nicht mehr akzeptabler Form widerspiegelt.

Ein Beispiel

Zwei Individuen aus zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen stehen sich gegenüber.
Wir nehmen als eingrenzendes Beispiel die Todesstrafe.
Wir nehmen die Todesstrafe deshalb, weil sie in den USA eine durch die Legislative zugelassene und von der Exekutive ausgeführte Tat ist.
Wir nehmen die Todesstrafe außerdem, weil sie eine in Deutschland durch die Legislative ausdrücklich untersagte Tat darstellt.


„Wer jemanden getötet hat, kann nicht seinerseits auf ein Recht auf Leben pochen.
Durch die Hinrichtung von Mördern und Mörderinnen wird sichergestellt, dass sie niemals mehr morden.“

„Das Recht auf Leben ist an keine Bedingungen gebunden.
Mit der Vollstreckung der Todesstrafe maßt sich der Mensch eine Quasi-Schöpfer-Rolle an. Nach modernem Verständnis ist der Staat keineswegs eine göttliche Einrichtung, sondern ein sehr menschlicher Versuch, das Zusammenleben von Menschen zu regeln. Der Staat kann irren und hat selber viele Schwächen.
Wer Leben als unwert beurteilt und anderen Menschen - selbst wenn es Verbrecher sind - menschliche Qualitäten abspricht, begibt sich in gefährliche Nähe zu faschistischem Gedankengut!“

(http://www.kuhnert.ch/ts/TS_Argumente.htm)

Ich habe hier jeweils zwei Argumente in einer befürwortenden und ablehnenden Form nebeneinander gestellt, wie sie von Menschen mit einer eben befürwortenden bzw. ablehnenden Haltung gegenüber der Todesstrafe eingenommen werden könnten. Die hervorgebrachten Argumente für oder gegen die Todesstrafe widersprechen sich also exakt, da sie genau gegensätzlich sind.
Eine Person, die sich klar für die Pro- oder Kontraseite ausspricht, wird also kaum die Möglichkeit besitzen, das Argument des Gegenübers zu goutieren, wenn sie selbst einer konträren Auffassung ist, ohne opportunistisch zu sein. Die Fragestellung bezieht sich aber klar darauf, etwas nicht gut zu heißen, sondern zu dulden, dass eine Person neben mir einer anderen Auffassung sein kann.
Wenn diese Person nun aber verlangt, einen bestimmten Sachverhalt zu tolerieren, der meine persönliche Freiheit in dem Maße einschränkt, als dass ich durch das Gelten lassen der andersartigen Meinung im Ausleben meiner Maximen und Werte behindert werde, darf Toleranz nicht zum maßgeblichen Handeln werden.

Ein Mensch kann meiner Meinung nach Handlungen oder Denkweisen, die gegen seine eigenen Prinzipien und Werte gehen, nicht tolerieren, weil diese Art der Toleranz eine fahrlässige Handlung darstellt. Fahrlässig deshalb, wenn durch sie beispielsweise Menschenleben gefährdet oder Freiheiten eingebüßt werden. Opportunistisch deshalb, weil man sich damit einverstanden gibt, das Handlungen und Denkweisen Raum gegeben wird, deren Ansicht man entschieden ablehnt.

Man soll mich hier nicht falsch verstehen: Ich lehne es entschieden ab, für Ungerechtigkeit zu plädieren, oder speziellen Gruppen mehr Freiheiten einzuräumen als anderen, ohne dabei die tatsächlichen Handlungen/Denkweisen und deren Intentionen zu durchleuchten.

Toleranz und die ethische Gesinnung

Gleichberechtigung ist und bleibt ein sehr wichtiger Wert unserer Gesellschaft und wurde in der Vergangenheit, man möge sich bitte an den Nationalsozialismus oder auch an die Apartheid in den USA erinnern, in genügender Weise missachtet. Die Verletzung der persönlichen Rechte jedes Individuums stellt eine Diskriminierung dar. Die Verletzung der Freiheit, nämlich der Freiheit der freien Meinungsäußerung, um ein Beispiel zu nennen, aber auch die laut Kant den Menschen ausmachende Entscheidungsfreiheit ist eine Gefahr, die auftreten kann, wenn man den Wert der Gleichberechtigung zu wenig Raum gibt. Toleranz kann aber nur entstehen, wenn den Werten Gleichberechtigung und Freiheit genug Platz gegeben wird. Es ist sinnvoll und richtig, eine Balance
zu finden, damit Toleranz aus einer ethisch richtigen Gesinnung entsteht.

Es ist wichtig, dass Toleranz aus einer ethisch richtigen Gesinnung entsteht, nämlich um den Willen der Freiheitserhaltung und zugunsten des Objekts. Es ist genau so richtig, aus Gründen der Gleichberechtigung zugunsten des Objekts Toleranz zu gewähren. Diese beiden Werte dürfen weder über- noch untertrieben werden, weder aus einer vermeintlich richtigen ethischen Gesinnung, noch aus einer moralisch falschen Gesinnung heraus.
Wenn der Begriff der Toleranz in seinen, die Freiheit und Gleichberechtigung betreffenden Aspekten, übertrieben wird, hat ein gesellschaftliches System keine gedanklichen Fixpunkte für eine gemeinsame Existenz, weil kein Individuum Grenzen bezüglich seiner Prinzipien und Ausrichtung seiner Werte erfährt. Dies stellt in dem Sinne ein Problem dar, als das jedes Individuum nicht nur die Rolle des Individuums, sonder gleichermaßen eine Rolle im Kollektiv, bzw. in der Gesellschaft einzunehmen hat und einem gewissen Grad der Anpassung ausgesetzt ist.
Wenn der Begriff Toleranz in seinen, die Freiheit und Gleichberechtigung betreffenden Aspekten, missachtet wird, hat ein gesellschaftliches System zu viele gedankliche Fixpunkte, nach denen sich das Individuum richten muss, da es zu viele klare Vorgaben bezüglich seiner Prinzipien und Ausrichtung seiner Werte erfährt. Dies stellt in dem Sinne ein Problem dar, als das jedes an die Gesellschaft mehr oder minder angepasste Individuum ein Recht darauf hat, seine Individualität auszuleben (Meinungsfreiheit etc.) und zu viele dann gegebenenfalls vorgeschriebene Richtlinien seine persönliche Freiheit einschränken könnten.

Wenn nicht mehr zwischen guten und schlechten, richtigen und falschen, gesunden und kranken Handlungen, Zuständen, Denkweisen etc. unterschieden wird, dann ist es unmöglich einen gemeinsamen Konsens zu finden, was die Toleranz betrifft.

Eine Balance zwischen zu viel und zu wenig Gleichberechtigung und Freiheit ist also ebenso wichtig, um ein gesundes Bewusstsein für Toleranz entwickeln zu können.

Aber ist Toleranz auch nicht einfach nur das „sich nicht Einmischen“ in die Angelegenheiten des Anderen? Solange dieser mein persönliches Leben nicht behindert, sollte es mich doch nicht stören, jeder Mensch hat schließlich andere Werte und Prinzipien?
Mitnichten. Das ist eine weitere Gefahr der Toleranz, auf die der Autor nicht hingewiesen, die aber ebenso zu einem weit verbreiteten gesellschaftlichen Phänomen angewachsen ist: Ignoranz im Zeichen der Toleranz.
Nein, Toleranz ist nicht einfach nur das „sich nicht Einmischen“ in die Angelegenheiten anderer, das würde dem wahren Wert der Toleranz nicht entsprechen. Toleranz ist, genau im Gegenteil, das bewusste Annehmen, das bewusste „Gelten lassen“ und Dulden einer Handlung/Denkweise, insofern ist Toleranz immer auch die Konfrontation, die stückweite Identifikation - wie sonst kann man etwas gewähren, wenn man sich nicht vorher damit auseinandergesetzt hat, wie sonst kann man etwas dulden, wenn man nicht mindestens die Beweggründe und Intentionen einer Handlung/Denkweise bewusst nachvollziehen und verstehen kann?

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass wahre Toleranz durchaus einen bestimmten Standpunkt zu der Thematik selbst verkörpert, dass Toleranz kein Akt der bewussten Distanzierung zu einer Thematik ist, sondern viel mehr eine neutrale Form der „Gutheißung“, und zwar neutral in dem Sinne, als das ich mich nicht bewusst positiv für eine Thematik ausspreche, sie aber gleichwohl nicht versuche zu verhindern.

Die „echte“ und die „künstliche“ Toleranz

Entsteht eine „künstlich“ geschaffene Toleranz sind es meistens niedere bzw. schlechte ethische Gesinnungen, die darauf zurückführen. Mit künstlicher Toleranz meine ich konkret, dass eine Person eine Handlung, Denkweise etc. einer anderen Person nicht deshalb toleriert, um der anderen Person ihre persönliche Freiheit zu geben bzw. die Person als gleichberechtigt anzusehen und ihr somit ihre persönlichen Rechte zu sichern, sondern, weil sie nicht die Kraft aufbringen möchte, sich aktiv gegen die beschriebene Handlung, Denkweise etc. auszusprechen, aus Angst vor möglichen Konsequenzen eine Konfrontation vermeiden möchte oder sich in dem Moment „verstellt“, in dem sie die Handlung/Denkweise augenscheinlich toleriert und damit bewusst die Konfrontation vermeidet, weil diese Option für Menschen oftmals leichter ist, als sich einer direkten Auseinandersetzung zu stellen. Es ist die Wahl zwischen „dem aufrechten Gang“ und dessen „preiswerter Alternative“, die nur augenscheinlich einen ebenso hohen Stellenwert hat, in Wirklichkeit aber die Unfähigkeit darstellt, eine klare Trennungslinie zwischen Prinzipien/Werten zu bilden, dessen Ausführung man nicht mit seinen eigenen Prinzipien/Werten vereinbaren kann.

Genau diese von mir als „künstliche Toleranz“ bezeichnete Handlung/Denkweise ist das, was der Autor kritisiert. Es gibt zahlreiche Beispiele, die belegen, dass unsere Gesellschaft momentan aus niederen Beweggründen und nicht aus „echten“ Beweggründen, die ein tolerantes Verhalten ausmacht, handelt und diese „künstliche Toleranz“ dann versucht, als „echte Toleranz“ zu verkaufen.
Doch wie „künstliche“ von „echter“ Toleranz unterscheiden? Darf man sich überhaupt anmaßen, eine als „echte Toleranz“ dargestellte Handlung/Denkweise, als „künstliche Toleranz“ zu entlarven?

Der Autor beschreibt die von mir als „künstliche Toleranz“ titulierte Handlungsweise in seinem Zitat prägnant, ich beharre jedoch auch darauf, dass Menschen aus einer moralisch richtigen Gesinnung tolerant handeln können und den Begriff als solchen nicht misshandeln. Ob es möglich ist, hinter jeder Form der Toleranz auf Anhieb die moralischen Intentionen herauszufiltern? Mit Bestimmtheit sagen zu können, dass jene Handlung von echter bzw. von unechter Toleranz zeugt? Dies erfordert sicherlich eine genaue Betrachtung der agierenden Person. Generell ist es meiner Meinung nach jedoch möglich anhand der von der Personen als richtig aufgefassten Prinzipien und Werte zu schließen, ob die Person in einem konkreten Fall eine Handlung/Denkweise tatsächlich tolerieren könnte (nämlich dann, wenn die von ihr als richtig aufgefassten Prinzipien und Werte nicht im Widerspruch zu den vermeintlich tolerierten Handlungen/Denkweisen stehen), oder ob sie tatsächlich nicht Toleranz, sondern lediglich Ignoranz oder Opportunismus, auf Grund von niederen Beweggründen wie Feigheit, Faulheit etc. praktiziert.
Nun ist selbst die Ignoranz bis zu einem gewissen rechtlich vertretbaren Rahmen keine strafbare Handlung. Nichtsdestotrotz ist das „Schmücken mit fremden Federn“, nämlich die absichtliche „Verkleidung“ der praktizierten Ignoranz als Toleranz, nicht das, was Toleranz an sich ausmacht. Insofern ist es verständlich, dass die „preiswerte Alternative“ in Relation zum „aufrechten Gang“ nicht den gleichen moralischen Stellenwert besitzt und die klare Intoleranz der Ignoranz oder dem Opportunismus vorgezogen werden sollte.

„Wenn Toleranz kein stabiler Wert an sich ist, sondern es auf das zu tolerierende Objekt ankommt, dann muss auch das Subjekt, mit seinen Ansichten und seiner Fähigkeit zu tolerieren mit einbezogen werden.“ - Claudia Priebe

„Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!“
Edmund Burke

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